Bingen-Gaulsheim - Pos. 1

Stolpersteine für Theodor und Johanette Boll in bingen Gaulsheim, Mainzerstraße 357

Text: Beate Goetz

Theodor Boll wurde am 22. Juli 1880 als Sohn von Lazarus und Babette Boll im damals selbstständigen Gaulsheim geboren. Am 21. April 1895 meldete er sich nach Bingen ab und begann eine Ausbildung als „Handlungslehrling“. Am 16. August 1899 kam er nach Gaulsheim zurück, wo er am 5. August 1909 mit Johanette Wolf eine Familie gründete; die Hochzeit fand in Nierstein statt. Die Braut wurde am 19. September 1883 als Tochter von Leopold und Mina Wolf in Schwabsburg geboren. Die Eltern von Theodor Boll sind auf dem kleinen Gaulsheimer Friedhof bestattet, die Eltern der Ehefrau in Nierstein.

Als seine Geschwister gibt Theodor Boll in seiner Familienliste vom März 1940 Franziska und Emma Boll in Frankfurt an. Gustav Wolf, ein Bruder seiner Frau, war ausgewandert. Willi(bald) Wolf lebte mit seiner Frau Flora in Mainz. Das Ehepaar entzog sich am 6. September 1942 der Deportation durch gemeinsamen Suizid durch Ertrinken; ihre Leichen wurden am Zollhafen aufgefunden. (Quelle: Als die letzten Hoffnungen verbrannten – Mainzer Juden zwischen Integration und Vernichtung, Bömelburg S. 108). Eine Tochter des Ehepaars emigrierte nach Amerika.

Theodor und Johanette Boll hatten zwei Söhne. Am 10. Dezember 1911 kam Sohn Ludwig zur Welt, am 25. Oktober 1915 Sohn Walter Leopold. Die Familie wohnte im eigenen Haus in der Mainzerstraße 124, wo Theodor Boll einen Gemischtwarenladen betrieb; Zeitzeugen erinnern sich, dass der Kaufmann daneben mit seinem Fahrrad, auf das er einen Koffer geschnallt hatte, über Land fuhr, um auch dort seine Waren anzubieten. Theodor Boll war Kriegsteilnehmer von 1915 bis 1918; er kämpfte in der Infanterie in Gallizien und bei der Artillerie an der Westfront, wofür er mit dem Ehrenkreuz für Frontkämpfer ausgezeichnet wurde.

Unter dem Druck des Boykotts jüdischer Geschäfte musste Familie Boll im Dezember 1935 ihr Haus in Gaulsheim verkaufen und zog in die Adolf-Hitler-Straße 10 nach Bingen. Im September 1938 wurde das Ehepaar Boll in das „Judenhaus“ in der Martinstraße 7 eingewiesen. Als Kultushelfer und Schuldiener erhielt Theodor Boll eine kleine Vergütung. Mit den Nummern 463 und 464 stehen Theodor und Johanette Boll auf der Deportationsliste vom 20. März 1942 nach Piaski bei Lublin in Polen. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.

Sohn Ludwig studierte in Göttingen Mathematik und ging schon im Juni 1933 nach Holland, Sohn Walter, der in der Weinhandelsfirma Gebr. Fromm eine kaufmännische Lehre absolviert hatte, emigrierte am 23. Juli 1938 aus der Adolf-Hitler-Straße 10 nach Nordamerika. Seinen ersten Job fand er in einem New Yorker Restaurant. Bald schon holte ihn der ebenfalls emigrierte Paul Fromm nach Chicago, wo er für Geedings und Fromm als Weinhändler arbeitete. Als amerikanischer Staatsbürger wurde Walter Boll 1943 eingezogen und war in Nordafrika und Italien eingesetzt. Nach dem Krieg kam er als Zivilangestellter des amerikanischen Militärs nach Wiesbaden, ging aber 1950 in die USA zurück, wo er die Fromm’sche Chicago Großhandelsfirma mit aufbaute, die heute unter dem Namen Great Lakes Wines firmiert und für die er bis kurz vor seinem Tod in 2003 international als Weinimporteur tätig war.

In einem Interview in der Chicago Tribune anlässlich seines 85. Geburtstags sagte Walter Boll: „Das, was mich am meisten zufrieden stellt, ist die Loyalität meiner Kunden, die immer noch telefonisch Wein bei mir bestellen. Keine Weinproben, keine Hausbesuche, sie vertrauen meinem Wort. Das ist schön.“ Das „Wiedersehen mit Bingen“ 1999 besuchte Walter Boll mit seiner Frau Anne. Sohn Theodor(e) aus erster Ehe lebte bei der Mutter. Während vieler Geschäftsreisen in Europa besuchte der Senior immer auch das Grab seiner Großeltern in Gaulsheim.

Seinen Bruder Ludwig hatte Walter Boll zu seiner Wiesbadener Zeit wieder getroffen. Dieser hatte im Untergrund in Holland mehr schlecht als recht überlebt, da er nach Aussage des Bruders zweifach von den Nazis verfolgt wurde, als Jude und als Kommunist. Nach dem Krieg kam Ludwig Boll nach Bingen zurück, wo er einige Jahre für die Kommunistische Partei dem Stadtrat angehörte. Er war 1946 Gründungsmitglied der VHS und gehörte als Schriftführer dem Geschäftsführenden Vorstand an. Kurze Zeit unterrichtete er Mathematik am Stefan George-Gymnasium, ging aber bald nach Ostberlin, wo er kinderlos starb.

Die Stolpersteine für Theodor und Johanette Boll werden von Binger Bürgern finanziert.

Alte Ansicht Boll-Haus Mainzerstraße 357 (rechtes Haus)